(In diesem Fall dachte ich mal daran, eine Handpuppe – einen Drachen – erzählen zu lassen. Daher auch der Name des Ich-Erzählers.)
Das Haus von Martha und Finn liegt in einer Seitenstraße, nicht weit vom Sportplatz. Immer wenn ich vom Fußball komme, gehe ich daran vorbei und schaue, ob die beiden vielleicht gerade draußen im Garten spielen.
Finn ist mein bester Freund, und Martha ist seine kleine Schwester. Martha ist total witzig und schlau, deshalb spielen wir auch oft zu dritt. Wir gehen alle in die Anne-Frank-Schule, Finn und ich sogar in die gleiche Klasse.
Finn ist wirklich gerade draußen und klettert in dem großen Apfelbaum. Er klettert super gerne. Und dann sitzt er oft bequem zwischen den Blättern und kann gucken, was auf der Straße passiert, ohne dass ihn jemand sehen kann.
“Hallo Drache!” ruft Finn von ziemlich weit oben. “Guck mal da, der letzte Ast. Bis zu dem bin ich noch nie gekommen. Der ist echt weit weg. Aber ich bin ziemlich gewachsen in der letzten Zeit, ich werde ja bald neun! Heute schaffe ich das bestimmt!”
Ja, der letzte Ast. Finn hat mir schon von ihm erzählt. Der ist wirklich ganz schön hoch, und ziemlich dünn ist er auch. Sieht irgendwie gefährlich aus. Aber Finn ist ein wirklich guter Kletterer. Er streckt sich und streckt sich…
Und da rutscht er ab. Er prasselt durch die Zweige unter ihm, kriegt aber keinen richtig zu fassen, und dann knallt er auf den Boden. Finn schreit auf, dann rollt er sich zusammen, hält sich den Arm und fängt leise an zu weinen. Mir wird ganz mulmig vor Schreck. “Finn, bist du ok?” rufe ich. Ich springe über die Gartenmauer und laufe hin zu ihm. Er sieht bleich aus. “Mein Arm tut so weh”, sagt er.
Finn hat richtig dolle Schmerzen. Er hält seinen Arm ganz fest und still, weil es sonst noch mehr wehtut. Ganz klar, das ist nicht nur der Schreck – Finn braucht Hilfe, und zwar schnell.
“Ist dein Papa da?” frage ich. “Mit Martha kurz was einkaufen,”schluchzt er, “es ist keiner da”. “Warte mal kurz, ich hole Hilfe!” sage ich. Ich laufe zur Türklingel und läute, aber es antwortet wirklich niemand. Ich schaue in die Nachbargärten und und laufe auf den Gehweg – nirgendwo Erwachsene. Wenn man sie echt mal braucht, ist keiner da! Mist! Dreimal Mist!
Auf dem Boden neben Finn liegt mein Rucksack. Mir fällt mein Handy ein. Das ist auch für Notfälle, sagen meine Eltern. Die Rufnummer ist klar: Die Polizei hat die 110, Feuerwehr und Krankenwagen die 112 – nur anrufen, wenn es wirklich ernst ist, haben sie gesagt. Und neulich haben wir den Notruf auch in der Schule nochmal durchgenommen. Also los.
Ich hole mein Handy raus, setze mich wieder zu Finn, wähle 112 und warte, dass jemand abnimmt… Wie war das noch? Der Spruch mit den Ws, den wir gelernt haben: Wo ist der Notfall? Was ist passiert? Wieviele Leute sind verletzt? Welche Verletzungen haben sie? “Finn, wie ist eure Hausnummer?” “18”, stöhnt er, “mein Arm tut so weh…”.
“Hallo, hier ist die Feuerwehr?”
“Hallo, Drache hier. Wir sind hier im Eichhörnchenweg 18. Mein Freund Finn ist vom Baum gefallen. Ihm tut schlimm der Arm weh und er kann ihn gar nicht mehr richtig bewegen.”
War das richtig so? Das waren doch noch mehr Ws… Ich überlege fieberhaft, ob ich nicht was Wichtiges vergessen habe. Aber mir fällt nicht ein, was!
Da fragt mich die Stimme am Telefon: “Kannst du mit deinem Freund reden oder ist er bewußtlos? Aha, danke. Seid ihr zwei allein oder sind seine Eltern oder andere Erwachsene da? Aha, aha… ok, also allein. Wie alt bist du denn? Acht Jahre. Ok. Kannst du bitte bei dem verletzten Jungen bleiben, bis der Krankenwagen kommt? Prima. Das war’s, wir sind gleich bei euch. Vielen Dank für deinen Anruf.”
Richtig, das war’s – das letzte W war Warten, ob die Feuerwehr noch Fragen hat, und nicht etwa einfach auflegen und abhauen! Vielleicht müssen die ja noch was Wichtiges von mir wissen. Also doch alles richtig gemacht. Hilfe ist unterwegs.
Ich bin also bei Finn geblieben. Ich habe ihm gesagt, dass der Krankenwagen gleich kommt, und habe ihn an der Schulter gehalten. Das hat ihm, glaube ich, schon ein bisschen geholfen. Er hat immer noch etwas geweint, weil ihm sein Arm so weh tat, aber er war echt tapfer. Und ich? Ich war super aufgeregt, aber das hat Finn zum Glück gar nicht so gemerkt.
Nach wenigen Minuten kam der Krankenwagen die Straße heraufgefahren, mit blinkenden Blaulichtern, und hielt direkt vor dem Haus. Zwei Sanitäter in leuchtenden Jacken stiegen aus und haben Finn untersucht. “Ja”, sagten sie, “der Arm ist gebrochen, Finn muss ins Krankenhaus. Wir werden seine Eltern von unterwegs anrufen und ihnen Bescheid sagen. Vielen Dank, dass du uns den Unfall gleich gemeldet und dich so gut gekümmert hast!” Und dann sind sie mit Finn in den Krankenwagen eingestiegen, und sie sind weggefahren.
Ob Finn wohl am nächsten Tag in die Schule kommt? Oder ob er richtig lange krank ist und im Bett liegen muss?
Hurra – Finn war in der Schule! Sein Papa hat ihn gebracht, ausnahmsweise. Finn hatte einen ziemlich schicken Gips. Und dann hat er mir erzählt, wie sie ihn im Krankenhaus geröntgt haben, und dass sein Unterarm gebrochen ist, und dass der Gips mehrere Wochen lang dran bleiben muss, damit sein Knochen wieder gerade zusammen wächst. Finns Papa hat sich noch bei mir bedankt, weil ich die Feuerwehr gerufen habe. Dann hat er Finn einen sehr coolen dicken Filzstift gegeben, mit dem seine Freunde auf dem Gips unterschreiben durften. Ich durfte zuerst.
Ach ja – den letzten Ast am Apfelbaum, den soll Finn bloß sein lassen, haben ihm seine Eltern nochmal eingeschärft. Finn ist einfach zu groß und zu schwer für den kleinen Ast. Er wird ja auch bald neun.